Ausgabe 3

Vor einiger Zeit habe ich einen Freund in Dresden besucht. Es war in den Tagen nach Weihnachten und der Zug nach Dresden war sehr voll. Da jedes Jahr ab Ende Januar die Klausurenphase an meiner Hochschule beginnt, hatte ich meinen Laptop auf dem Tisch des Viersitzers und fasste ein Skript zusammen. Auf den anderen Sitzen meiner Sitzgruppe saß eine ganz junge Familie. Die Mutter versorgte einen ganz kleinen Jungen mit einer Milchflasche und der Vater machte es einem kleinen Mädchen mit Jacken und einer Decke bequem, während er außerdem einen Blick auf den Kinderwagen im Türbereich hielt.

Der Zug füllte sich immer mehr. Es stiegen auch immer mehr Menschen ein, die für die Fahrt alkoholische Getränke dabei hatten. Ich merkte, dass es dem jungen Vater unangenehm war, dass er den Kinderwagen im Türbereich wegen den vielen Personen nicht mehr sehen konnte. Kurzerhand ging er zum Kinderwagen und platzierte ihn im Gang, direkt neben unserem Viersitzer. Das hatte natürlich zur Folge, dass der Gang nicht mehr begehbar war. Aufgrund des vollen Zuges war aber ohnehin kein Vorbeikommen.

Eine alte Frau und ein betrunkener alter Mann fingen an gegen den jungen Vater zu shooten. Vermutlich ist es gar nicht erlaubt, einen Kinderwagen im Gang eines Zugabteils abzustellen, allerdings war die ganze Situation in meinen Augen eine Ausnahmesituation. Die Kommentare der alten Frau und des betrunkenen Mannes waren in jedem Fall unangemessen.

Die junge Familie hatten beinahe ihre Haltestelle erreicht. Der junge Vater war sichtlich durch die Kommentare gekränkt, aber man konnte sehen, dass er sich zusammenriss, um die Situation nicht zu eskalieren.

Zum Abschied wünschte ich ihnen eine gute Reise, einen kühlen Kopf und dachte anschließend über mein Erlebtes nach:

  • Die alte Frau war sehr gehässig gewesen und ich wünschte mir, dass sie die Anstrengung des Vaters, seine Kinder bei Laune zu halten, erkannt und sich unterstützend gezeigt hätte.
  • Ich fand die junge Familie sehr inspirierend. Die Kinder hielten durch und Mutter und Vater schienen denkbar herzlich für die Kleinen da zu sein, obwohl sie offensichtlich beide erschöpft waren. Außerdem hat sich die Situation für den Vater durch die äußeren Einflüsse zugespitzt und er hat nicht die Fassung verloren. – Hut ab!
  • Ich wünschte, ich hätte entschiedener Partei für die Familie ergriffen. Zwar habe ich ihnen gut zugeredet, allerdings wäre es womöglich auch besser gewesen, hätte jemand der alten Frau und dem betrunkenen Mann „die Stirn geboten“. Deeskalation hat dabei natürlich Priorität.

Die gehässigen Kommentare können natürlich auch viele Gründe gehabt haben. Selbstverständlich war dieses Verhalten absolut inakzeptabel, allerdings waren vielleicht ernstzunehmende Bedürfnisse die Ursache dafür. Möglicherweise fährt die ältere Frau sehr selten mit der Bahn, bekam durch den vollen Zug Panik und machte sich durch die Shooterei Luft. Usw. Usw.

Durch die Situation hatte ich aber noch ein weiteres Learning, das auch in einem Geschäftskontext hilfreich sein kann: Es kann wichtig sein, genug Erfahrung zu haben, um unterscheiden zu können, welche Situationen der Norm entsprechen und welche Situationen nicht. So kann man situativ bessere Entscheidungen treffen.